Kleine Anfrage:Spannungsrisskorrosion im Atomkraftwerk Lingen II: Wurden Inspektionspflichten vernachlässigt, und geht von der Spannungsrisskorrosion eine Gefahr aus?

Anfrage der Abgeordneten Volker Bajus und Miriam Staudte

Anfrage der Abgeordneten Volker Bajus und Miriam Staudte (GRÜNE) an die Landesregierung, eingegangen am 08.12.2021

Im Jahr 2019 wurden bei der Revision des AKW Lingen II (KKE) bei stichprobenartigen Kontrollen Risse an zwei Dampferzeuger-Heizrohren entdeckt. Die nur 1,23 mm dicken Wände der Dampferzeuger-Heizrohre sind die sicherheitstechnisch wichtige Barriere zwischen dem radioaktiven Reaktorkreislauf (Primärkreislauf) und dem nicht radioaktiven, die Turbinen antreibenden und aus dem Containment herausführenden Wasser-Dampf-Kreislauf (Sekundärkreislauf). Der Bruch eines der mehr als 16 000 Rohre führt zu Kühlmittelverlust, sodass alle von Spannungsrisskorrosion betroffenen Rohre umgehend verschlossen werden müssen.

Ursache der 2019 entdeckten Risse war nach Darstellung der Landesregierung Spannungsrisskorrosion, ausgelöst durch korrosive Bedingungen in den Dampferzeugern (vgl. Drs. 18/4158). Bei der Revision im Jahr 2020 musste im AKW Lingen II erneut ein schadhaftes Dampferzeuger-Heizrohr wegen eines durch Spannungsrisskorrosion verursachten Risses verschlossen werden, an einem weiteren Rohr wurde eine gegenüber dem Vorjahr fortschreitende volumenförmige Wanddickenschwächung (Lochkorrosion) festgestellt (vgl. Drs. 18/6746).

Das AKW Lingen II ist nahezu baugleich mit dem AKW Neckarwestheim II (GKN II). Im AKW Neckarwestheim II wurden bei den Revisionen 2017, 2018, 2019, 2020 und 2021 ebenfalls Spannungsriss- und Lochkorrosion an den Dampferzeuger-Heizrohren festgestellt. Nach Aussage der Bundesregierung ist sowohl die loch- als auch die rissbildende Korrosion in beiden Kraftwerken „auf den Eintrag und die nachfolgende Aufkonzentration von Verunreinigungen“ zurückzuführen. Nach Aussage der Bundesregierung wurden in beiden Kraftwerken dieselben Gegenmaßnahmen getroffen: „Als Vorkehrung gegen Wiederholung wurden in den Anlagen weiterhin die Empfehlungen der RSK und der GRS-WLN (siehe Vorbemerkung) zur Verbesserung der wasserchemischen Parameter wie z. B. vorsorgliches Verschließen potenziell betroffener Kondensatorrohre, Spülungen der Dampferzeuger-Sekundärseiten und die engmaschigere Kontrolle der wasserchemischen Parameter des Sekundärkreislaufs umgesetzt, um potenziell korrosionsfördernde Verunreinigungen im Speisewasser zu verhindern, frühzeitig zu erkennen und erforderliche Maßnahmen einzuleiten“ (vgl. BT-Drs. 19/31989).

Nach Angaben der Landesregierung wurden diese Gegenmaßnahmen im AKW Lingen II seit 2019 vorgenommen (Drs. 18/9334). Dennoch brachte die Revision 2020 sowohl einen weiteren Spannungskorrosionsriss als auch eine fortschreitende Lochkorrosion zutage.

Im AKW Neckarwestheim II wurden und werden alle Heizrohre weiterhin jährlich an beiden Enden (heiße und kalte Seite) überprüft, insgesamt rund 32 000 Rohrpositionen. Dabei traten trotz der durchgeführten Gegenmaßnahmen jedes Jahr neue Befunde - Spannungsrisskorrosion und Lochkorrosion - auf. Bei der Revision 2021 wurden erstmals auch an der sogenannten kalten Seite der Dampferzeuger-Heizrohre Spannungsrisskorrosion festgestellt1. Die durchgeführten Gegenmaßnahmen konnten die Korrosion folglich nicht stoppen.

Im AKW Lingen II wurden demgegenüber

– 2019 etwa 6 000 der rund 16 000 Dampferzeuger-Heizrohre überprüft, jeweils nur heißseitig an einem der beiden Rohrenden (vgl. Drs. 18/4158),

– trotz der Korrosionsfunde 2019 bei der Revision 2020 nur ein Teil der Dampferzeuger-Heizrohre geprüft (vgl. Drs. 18/9334),

– trotz der Korrosionsfunde 2020 bei der Revision 2021 keine Untersuchungen der Heizrohre mehr durchgeführt (vgl. Drs. 18/9334).

Dass in der Revision 2021 keine Dampferzeuger-Heizrohre im AKW Lingen II überprüft wurden, begründete die Landesregierung auf unsere Anfrage in der Drs. 18/9334 wie folgt: „Das für die Prüfanweisungen in der Prüfliste festgelegte Prüfintervall für die Prüfung der Dampferzeuger-Heizrohre beträgt gemäß dem kerntechnischen Regelwerk (KTA-Regel 3201.4) fünf Jahre, wobei innerhalb von drei Jahren die halbe Anzahl der Dampferzeuger erfasst werden soll. Wirbelstromprüfungen an Dampferzeuger-Heizrohren erfolgten zuletzt für alle vier Dampferzeuger während der Revision 2019 und während der Revision 2020. In der Gesamtbewertung der gewonnenen Prüfergebnisse gibt es keinen Hinweis darauf, dass in den Dampferzeugern des KKE in den vergangenen zwei Betriebszyklen aktive Korrosionsmechanismen an den Dampferzeuger-Heizrohren wirkten und derzeit davon auszugehen ist, dass in den Dampferzeugern des KKE keine korrosiven Bedingungen vorliegen. Dies wird durch die zurückliegenden und aktuellen Ergebnisse der sekundärseitigen wasserchemischen Überwachung gestützt, die keine Hinweise auf den Eintrag bzw. das Vorhandensein von signifikanten Mengen an korrosionsfördernden Verunreinigungen zeigen.“

Gutachten von Sachverständigen belegen hingegen die Notwendigkeit einer jährlichen und vollumfänglichen Überprüfung der Dampferzeugerheizrohre:

– Eine im Auftrag des Ministeriums für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg erstellte gutachterliche Stellungnahme des Physikerbüros Bremen vom 31. März 2021 kommt zu dem Schluss, dass mit Blick auf die Spannungsrisskorrosion an Dampferzeuger-Heizrohren in Neckarwestheim II „eine Instandhaltungsstrategie, die sich ausschließlich auf die in der Regel KTA 3201.4 für DEHR vorgegebenen Standard-Inspektionszyklen (fünf bzw. vier Jahre, wobei innerhalb von drei bzw. zwei Jahren die halbe Anzahl der Dampferzeuger erfasst wird) und -umfänge (je Dampferzeuger 20 % aller Rohre über die gesamte Länge bis zur unteren Einwalzung) in Kombination mit einem berechneten LvB-Verhalten von Heizrohren mit unterstellten Durchrissen abstützt, unzulässig (wäre)“,

– Der Sachverständige TÜV Nord wies 2021 einem Prüfbericht zu Neckarwestheim II darauf hin, „dass es ausgehend von nicht entfernbaren, noch vorhandenen Verunreinigungen oder einem nicht gänzlich auszuschließenden Neueintrag ionaler Verunreinigungen wieder zu korrosionsbedingten Schäden an den DE-Heizrohren kommen kann." Der TÜV Nord hält es darum für „sachgerecht“, auch bei der folgenden Revision wieder alle Rohre erneut zu prüfen (ebd., S. 5).

– Ein aktueller Prüfbericht zu Neckarwestheim II des TÜV Nord stellt fest, dass Wasseranalysen des Sekundärkreislaufs nicht geeignet sind, Aussagen über die korrosiven Verhältnisse in den feinen Spalten zwischen Dampferzeuger-Heizrohren und Rohrboden zu machen: „Die lokalen Konzentrationen können dabei um Größenordnungen höher liegen, als im durch Beprobung zugänglichen DE-Wasser“.

Im AKW Lingen II wurde in den Revisionen 2019 und 2020 jeweils nur ein Teil der Heizrohre untersucht. Die Landesregierung äußerte diesbezüglich: „Die Auswahl der zu prüfenden Rohre umfasste dabei vollständig die sekundärseitig festgestellten Ablagerungsbereiche in den Strömungstotzonen als ‚potenziell betroffenen Bereich‘“ (vgl. Drs. 18/4158). Ein Vergleich mit dem fast baugleichen Reaktor Neckarwestheim II zeigt, dass die Korrosion dort zwar gehäuft in einem gewissen Bereich auftritt, jedoch nicht auf diesen Bereich beschränkt ist.
Insbesondere Lochkorrosion wurde auch außerhalb der vermeintlich „potenziell betroffenen Bereiche“ nachgewiesen5.

1. Wie, wann, von wem und wodurch wurde der Nachweis erbracht, dass die Ursache der Korrosion in den Dampferzeugerrohren des AKW Emsland beseitigt ist?

2. Inwiefern hat die Landesregierung diesen Nachweis hinterfragt und überprüft?

3. Vor dem Hintergrund, dass in den Atomkraftwerken Neckarwestheim II und Lingen II die gleichen Maßnahmen zur Beseitigung der Korrosionsursachen durchgeführt werden bzw. wurden und in Neckarwestheim II dennoch seit 2018 jedes Jahr neue Risse sowie neue und/oder fortschreitende Lochkorrosion festgestellt wurden: Aufgrund welcher Erkenntnisse geht die Landesregierung davon aus, dass diese Maßnahmen am typgleichen Reaktor in Lingen geeignet gewesen sein sollen, die Korrosion zu stoppen?

4. Wie bringt die Landesregierung ihre gegenüber dem BUND geäußerte Einschätzung, es gebe „keine Hinweise, die auf einen aktiven Korrosionsmechanismus innerhalb der Dampferzeuger des KKE hindeuten“, in Einklang mit den Ergebnissen der Revision 2020, in der ein weiterer Fall von Spannungsrisskorrosion und eine gegenüber dem Vorjahr vergrößerte volumenförmige Vertiefung (Lochkorrosion) nachgewiesen wurde?

5. Vor dem Hintergrund der o. g. gutachterlichen Stellungnahme im Auftrag des Baden-Württembergischen Umweltministeriums vom 31. März, wonach eine Instandhaltungsstrategie, die sich ausschließlich auf die im Kerntechnischen Regelwerk vorgegebenen Standard-Inspektionszyklen und -umfänge stützt, unzulässig wäre: Hält die Landesregierung daran fest, dass eine jährliche Untersuchung der DEHR im AKW Lingen II trotz der wiederholten Korrosionsfunde nicht erforderlich ist (bitte begründen)?

6. Aufgrund welcher Begründung hat die Landesregierung das Vorgehen von RWE akzeptiert, bei den Rissprüfungen im KKE 2019 und 2020 anders als in Neckarwestheim II
a) nur einen Teil der Dampferzeuger-Heizrohre und
b) von diesen jeweils nur das heiße Ende (hot leg) und nicht auch das kalte Ende (cold leg) zu untersuchen?

7. Hält die Landesregierung die Einschränkung der Rissprüfungen in KKE auf die jeweils heißen Rohrenden (hot leg) der Dampferzeuger-Heizrohre mit Blick auf die neuen Erkenntnisse aus Neckarwestheim II, wo im Zuge der Revision 2021 auch am „kalten“ Ende (cold leg) von Dampferzeuger-Heizrohren Spannungsrisskorrosion nachgewiesen wurde, weiterhin für sachgerecht (bitte begründen)?

8. Warum hält die Landesregierung eine Untersuchung aller Dampferzeuger-Heizrohre für verzichtbar, obwohl die Betriebserfahrung aus dem AKW Neckarwestheim II zeigt, dass sich die Korrosionen nicht auf einen bestimmten Bereich der Dampferzeuger beschränken?

9. Betriebserfahrungen aus wie vielen AKW sind nach Ansicht der Landesregierung nötig, um eine belastbare Aussage machen zu können, welche Dampferzeuger-Heizrohre im AKW Lingen II sicher nicht von Spannungsrisskorrosion betroffen sind?

10. Wird die Landesregierung im AKW Lingen II anordnen,
a) die rund 10 000 bisher nicht untersuchten Dampferzeuger-Heizrohre zu überprüfen,
b) die kalten Rohrenden (cold leg) der 2019 und 2020 in KKE überprüften Dampferzeuger-Heizrohre zu untersuchen,
c) die 2021 unterlassene Überprüfung aller Dampferzeuger-Heizrohre an beiden Rohrenden (hot leg und cold leg) nachzuholen, wie es auch der BUND Niedersachsen im September 2021 gefordert hat?

Inwiefern plant die Landesregierung gegebenenfalls andere Überprüfungen von Dampferzeuger-Heizrohren in KKE?
Bitte jeweils anführen: Wenn ja, wann und mit welchen Methoden? Wenn nein, warum nicht?

11. In welchem Umfang sind im Rahmen der Revision 2022 Überprüfungen der Dampferzeuger-Heizrohre im AKW Lingen II geplant bzw. aus Sicht der Landesregierung erforderlich?

12. Hatten die im AKW Lingen II in den Jahren 2019 und 2020 nachgewiesenen Risse (lineare Anzeigen) an Dampferzeugerheizrohren nach Kenntnis der Landesregierung eine gemeinsame Ursache? Inwiefern ist folglich von einem systematischen Fehler auszugehen8?

13. Unter welchen Bedingungen ist nach Auffassung der Landesregierung ein Ausfall von Dampferzeuger-Heizrohren zulässig?

Alle Informationen und die Antwort der Landesregierung (sobald verfügbar) gibt es hier.

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