Kleine Anfrage:Wie werden potenzielle Erstanlaufstellen für Betroffene von Zwangs- und Frühehen in Niedersachsen eingebunden, informiert und fortgebildet?

Anfrage der Abgeordneten Susanne Menge, Imke Byl und Volker Bajus

Anfrage der Abgeordneten Susanne Menge, Imke Byl und Volker Bajus (GRÜNE) an die Landesregierung, eingegangen am 14.07.2021

Eine Zwangsehe liegt dann vor, wenn die informierte und freie Zustimmung zur Heirat von mindestens einer der beiden involvierten Personen fehlt. Unter den Begriff Zwangsehe fallen auch Frühehen, bei denen mindestens eine der beteiligten Personen unter 18 Jahre alt ist. Zwangs- und Frühehen betreffen Menschen verschiedener Herkunft, Kultur und Religionen. Auch die Motive für eine Zwangsverheiratung sind äußerst vielfältig: dazu gehören die Verhinderung vorehelicher Sexualität oder unerwünschter Beziehungspartnerinnen und -partner, der Schutz der „Familienehre“ oder finanzielle Anreize.

Nach § 237 StGB ist die Nötigung zur Eingehung einer Ehe strafbar. Seit 2017 gilt in Deutschland ein ausnahmsloses Ehemündigkeitsalter von 18 Jahren. Im Ausland geschlossene Ehen mit minderjährigen Beteiligten gelten in Abhängigkeit vom Alter seither automatisch als unwirksam oder können von Familiengerichten aufgehoben werden.

Im Jahr 2019 wurden bundesweit 74 Fälle von Zwangsehen angezeigt, darunter auch der Fall eines sechsjährigen Jungen. Im Zuge der COVID-19-Pandemie hat das Geschehen weltweit zugenommen. So zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) von 2020 82 Fälle von versuchter und vollzogener Zwangsverheiratung in Deutschland. Von den hierbei erfassten 77 Mädchen und Frauen wurden bei 33 die Zwangsverheiratungen durchgeführt, bei 44 versucht. In fünf Fällen waren Männer von einer Zwangsverheiratung betroffen. Dabei zeigen die Hellfelddaten der PKS nur die aufgedeckten und zur Anzeige gebrachten Fälle. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher vermutet.

Die Universität Vechta hat im Rahmen des von der Europäischen Kommission finanzierten FuE-Projektes „EU FEM Roadmap“ einen Leitfaden zum Umgang mit Zwangs- und Frühehen erarbeitet, der 2017 erschienen ist. Er liegt inzwischen in acht unterschiedlichen Sprachen in jeweils einer Kurz- und einer Langfassung online vor.1 Der forschungsbasierte Leitfaden richtet sich vor allem an Einwohnermelde-, Standes- und Jugendämter, Schulen, medizinisches Personal und Strafverfolgungsbehörden als potenzielle Erstanlaufstellen für Betroffene. Diese Stellen sind aufgrund ihrer originär anderen Aufgaben oftmals weniger stark im Umgang mit Betroffenen erfahren als spezialisierte Beratungsstellen.

Durch den Fokus auf diese Gruppe der Erstanlaufstellen, mit denen Betroffene im Alltag eher in Kontakt kommen und darüber identifiziert werden können, unterscheidet sich der Leitfaden von Handreichungen, die sich explizit an Fachberatungsstellen bzw. Fachleute wenden, wie etwa das vom niedersächsischen Sozialministerium verfasste Papier „Verhinderung von Zwangsehen. Eine Handlungsempfehlung für Fachleute“ oder die Broschüre des BMFSFJ „Zwangsverheiratung bekämpfen - Betroffene wirksam schützen. Eine Handreichung für die Kinder- und Jugendhilfe“. Der EU-Leitfaden ist sowohl von seinem Adressatenkreis her als auch von der Umfänglichkeit der Darstellung weiter gefasst als das Papier „Zwangsheirat ächten - Zwangsehen verhindern!“ des Niedersächsischen Kultusministeriums, das sich explizit in sehr kurzer Form auf einer Seite an Lehrkräfte wendet.

1. Hat die Landesregierung Erkenntnisse über das Vorkommen von Zwangs- und Frühehen in Niedersachsen sowie über Alter und Geschlecht der Betroffenen?

2. Hat die Landesregierung Informationen über Ehen Minderjähriger, die lediglich nach religiösem oder sozialem Ritus geschlossen wurden?

3. Sind in den letzten fünf Jahren Kinder und Jugendliche aufgrund einer Zwangs- oder Frühehe von niedersächsischen Jugendämtern in Obhut genommen worden?

4. Wie viele im Ausland geschlossene Ehen mit Minderjährigen sind durch die Gesetzesänderung im Jahr 2017 in Niedersachsen unwirksam geworden bzw. von Familiengerichten annulliert worden?

5. Welche Beratungs- und Unterstützungsangebote für Mädchen und Frauen, die von Zwangs- und Frühehen betroffen sind, gibt es in Niedersachsen, und wie ist deren Erreichbarkeit (verkehrstechnisch und mit Blick auf niedrigschwellige Nutzung - auch mit Blick auf die besonders vulnerablen Personengruppen)?

6. Welche Beratungs- und Unterstützungsangebote für Jungen und Männer, die von Zwangs- und Frühehen betroffen sind, gibt es in Niedersachsen, und wie ist deren Erreichbarkeit (verkehrstechnisch und mit Blick auf niedrigschwellige Nutzung - auch mit Blick auf die besonders vulnerablen Personengruppen)?

7. In welchem Rahmen widmet sich das Land Niedersachsen dem Gewaltdelikt „Zwangs- und Frühehe“ (z. B. in Bildungseinrichtungen, in der mädchenorientierten sozialpädagogischen Arbeit oder in partnerschaftsorientierten Projekten)?

8. Welche Ressorts der Landesregierung sind - jenseits des AK Zwangsheirat des Sozialministeriums - mit der Umsetzung entsprechender Präventionsmaßnahmen bezüglich Zwangs- und Frühheirat befasst?

9. Sind Präventionsmaterialien wie z. B. der EU-FEM-Roadmap-Leitfaden zum Umgang mit Zwangs- und Frühheirat in allen potenziellen Erstanlaufstellen für Betroffene (siehe Vorbemerkung) in Niedersachsen bekannt, bzw. was ist von der Landesregierung geplant, um diese dort bekannt und zugänglich zu machen?

10. Gibt es in Niedersachsen Qualifizierungsangebote für die öffentliche Verwaltung, die Lehrkräfte oder die Polizeidienststellen und medizinisches Personal zum Umgang mit Früh- und Zwangsehen?

 

Alle Informationen und die Antwort der Landesregierung (sobald verfügbar) gibt es hier.

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